Hasan zeigt das Leben in griechischen Flüchtlingslagern

MIGAZIN am 7. Februar 2020

„Einmal den Louvre besuchen…“

Hasan zeigt das Leben in griechischen Flüchtlingslagern

Tausende Geflüchtete harren in Griechenland in überfüllten und unhygienischen Lagern in winteruntauglichen Unterkünften aus. Darunter auch Hasan, der Archäologiestudent aus Mossul. Er hat MiGAZIN durch die Lager geführt.

Als der Bus endlich kommt, der mich mit einer Gruppe wartender Flüchtlinge von Mytilini ins nahegelegene Moria-Camp bringen soll, gibt’s ein ruppiges Gedränge. Mit Faustschlägen versucht ein Mann für sich und seine Frau einen Platz im Bus zu erobern. Andere schieben und stoßen, um durch die nur halb geöffnet Türe in den Bus zu gelangen. Der Kartenkontrolleur, der über Mitfahren oder Draußenbleiben entscheidet, schlichtet mit lauter, schneidender Stimme. Dann schließen sich die Türen, der Bus ist voll. Ich bleibe draußen.

Das ist der Augenblick, in dem mich Hasan auf Englisch anspricht, lächelnd, tröstend, zu Geduld ermunternd. Eine halbe Stunde später sitzen wir dann nebeneinander im nächsten, einem geräumigeren Bus. Er wird uns zum Moria-Camp bringen, eine Strecke von ca. 15 km. Hier ist Hasan seit November 2019 „zu Hause.“

Die Fahrt ist lang genug für die Geschichte seiner Flucht. Der heute 28jährige studierte in Mossul Archäologie. Bis die Terrororganisation „ISIS“ die Stadt 2014 im Handstreich einnahm, ein Terrorregime errichtete und alle, die Widerstand leisteten, umbrachte. Dazu gehörten auch Brüder und der Vater von Hasan.

Die Jahre bis zur Befreiung wagte er sich kaum auf Straße. Es waren Jahre der Angst, des Hungers und Elends. Ein Bild, das eine französische Journalistin von ihm machte, zeigt ihn in den Trümmern seines Hauses, auf 40 kg abgemagert, ein Baby des Nachbarn im Arm. Das muss der Augenblick gewesen sein, als Hasan beschließt die Stadt zu verlassen, in Richtung Deutschland, wohin es seine Schwester bereits geschafft hatte. Seine Sehnsucht: Frieden, einmal als Archäologe zu arbeiten und dann den Louvre in Paris besuchen, das Original der Mona Lisa sehen.

Hintergrund: Mitte Januar 2020 war Jochen Menzel im Anschluss an eine Türkei-Reise eine Woche auf der Insel Lesbos. Auf dem Weg ins Moria Camp lernte er Hasan aus Mosul kennen, mit dem er dann den Nachmittag verbrachte. Die Verbindung, die Anteilnahme besteht weiter, er schreibt Jochen Menzel ab und zu von seinem Alltag …

Hasan’s Fluchtstationen: die Türkei, Çeşme, Izmir. Von hier aus gelingt ihm im November 2019 die Überfahrt nach Lesbos, nachts in einem Schlauchboot. Bei seiner Ankunft auf der Insel wird er registriert, erhält ein Ausweisdokument, gültig vorläufig bis Ende Januar. Zusammen mit einem anderen Flüchtling aus Basra/Irak baute er aus Plastikplanen ein winziges Zelt. Es liegt außerhalb des eingezäunten offiziellen Moria-Camps, das wegen Überfüllung niemanden mehr aufnehmen kann. Unter diesen Planen, in einer Umgebung ohne sanitäre Anlagen, Strom oder fließendes Wasser findet er ab nun sein Zuhause.  Zunächst einmal bis zur ersten Anhörung im Mai, wenn in Mytilini über seinen Asylantrag befunden wird.

Das täglich sich ausbreitende Camp

Nachdem Hasan mir seinen Zeltnachbarn vorgestellt hat, – einen Palästinenser, der hier mit seiner Frau aus Algerien lebt -, führt er mich den Hügel hinauf, wohin sich das Lager täglich weiter ausbreitet. Ein Olivenhain vor Monaten noch, jetzt gesprenkelt vom Blau oder Weiß der Plastikplanen, den zwischen den Bäumen aufgespannten bunten Wäscheleinen, heute ein Lagerplatz für Flüchtlinge. Die Bäume sind gefällt oder beschnitten für Bau- und Brennholz, manche nur noch am Stumpf erkennbar. Neu angekommene afghanische Jungs bauen an ihrer Unterkunft, heben kleine Gräben aus, um sich bei Regen vor Wasser zu schützen. Hasan erzählt mir, wie dieses Lager wächst und sich unaufhörlich ausbreitet.

Wir gehen weiter zwischen den Zelten, Plastikbehausungen, entlang von Müllbergen.

Kinder spielen, an Bäumen wird gesägt, um Feuerstellen wärmen sich Menschengruppen an diesen kalten Wintertagen. Es wird Essen gekocht, zu dem wir eingeladen werden. Zusammen mit dem offiziellen, d.h. eingezäunten Teil sollen inzwischen mehr als 13.000 Menschen hier leben.

Unser Weg führt hinunter zum Lagerzaun, der an vielen Stellen aufgeschnitten ist. Menschen haben sich durch diese Lücken den Weg ins Hauptlager gebahnt, um zu Wasserstellen, zur Essensausgabe, zu den Toiletten, zu Beratungsstellen zu kommen.

Der Lager-Kosmos

Ein Gebetsruf ertönt aus einer entfernten Lagerecke – eine provisorische Mescit, eine kleine Moschee hat man eingerichtet, denn die meisten Flüchtlinge sind Muslime.

Entlang einem breiteren, mit Schotter befestigten Weg stehen Buden, behelfsmäßig aus Latten errichtet, mit blauen oder weißen Planen dichtgemacht. Aus ihnen wird verkauft: Süßigkeiten, Lutscher und Bonbons für Kinder, Hefte‚ Schreibwaren. Auf einer der Buden steht Exchange, auf Arabisch „saraf“ – das Geld, was in verschiedenen Währungen zirkuliert, kann hier in Euro eingetauscht werden. Ein paar Schritte weiter hat sich unter einem großen Plastikverhau eine Bäckerei eingerichtet, “illegal“, d.h. ohne ein offizielle Erlaubnis. Hier wird in einem Erdloch, einer Art Tandir-Ofen, Fladenbrot, Lavash, gebacken und verkauft. Vor anderen Buden stehen Kisten mit Obst zum Verkauf, ein farbiges Bild aus Orangen, Zitronen, Äpfeln und Gemüse, auf dem Hintergrund der blauen Plastikplanen.

Die Straße hinunter am Lagerzaun entlang erinnert an einen Flohmarkt: Aus dem Abfall der Stadt Aufgelesenes wird angeboten, ein arg demolierter Elektroheizer ist für 20 Euro zu haben. Den Preis bestimmt hier die Nachfrage, die Furcht vor der Kälte. Einige Händler sind Griechen, die täglich mit ihrem Obst und Gemüse, Kurzwaren, Textilien hierher kommen und sich ein Geschäft versprechen. Wir passieren eine kleine Ein-Mann-Kabine und lesen „Teheran Friseur“; ein Stuhl davor ist für die Wartenden.

Hasan‘s freundliche Art stellt den Kontakt her, vertreibt die Scheu vor dem Gespräch. Als man mich Türkisch sprechen hört, versammeln sich um mich Flüchtlinge aus dem Sudan, Afghanistan und anderen Ländern. Sie haben vor ihrer Ankunft im Lager einige Zeit in der Türkei gelebt und dort die Sprache gelernt. Ich bin überrascht, hier das Türkische als „lingua franca“, als Verkehrssprache zu hören

Die Menschen suchen den Kontakt nach draußen, zu Fremden. Sie sind hungrig nach Neuigkeiten, sie wünschen sich Anteilnahme, Mitgefühl. Eine Gruppe afghanischer Kinder, Frauen und Männer, wollen, dass ich sie fotografiere. Sie fragen mich, was ich fühle, angesichts dieser Zustände. Mir verschlägt es die Sprache, Scham und Hilflosigkeit beschleichen mich. Was wird aus den vielen Kindern, mit welchen Bildern und Erfahrungen wachsen sie auf, wo endet diese Odyssee – ohne greifbares Ziel, wo finden sie eine neue, menschenwürdige Bleibe?

Und wenn ich nach ihren Gefühlen frage, dann antworten sie, dass für sie das Lager zur Falle geworden ist, in der sie gefangen sind unter inhumanen Lebensverhältnissen. Ihr Ziel war ein besseres Leben ohne Krieg, Gewalt und Not. Sie wollen weiter auf das griechische Festland, nach Athen. Ihre Hoffnungen richten sie auf um Europa, Deutschland, England.

Während wir sprechen packen hinter uns zwei Filmteams ihre Gerätschaften aus. Für Bilder und O-Töne aus dem Moria Camp scheint es einen Markt auf TV-Kanälen, Filmfestivals zu geben – aber was haben sie bisher bewegt?

Lager-Gangs

Hasan hat Zahnschmerzen und bisher keinen Termin in Mytilini bekommen. Wie viele andere bräuchte er dringend eine ärztliche Behandlung. Die Krankenhäuser, die Ärzte können den Ansturm nicht mehr bewältigen. Aspirin-Tabletten, die ich aus meinem Rucksack krame, für Hasan eine kleine Linderung, ein kleines Glück.

Mit der täglich wachsenden Zahl von Flüchtlingen, der Kälte, der fehlenden Gesundheitsversorgung wächst die Not und Verzweiflung. In diesen Wintermonaten sind die Nächte Stunden der Kälte und der Angst. Hasan spricht von afghanischen Gangs, die Streit provozieren, Diebstähle begehen. Allein in den letzten Wochen hat es drei Tote gegeben. Ich verlasse das Lager mit Bildern und Begegnungen, die mich verstören.

Am Tag nach unserer Begegnung schickt mir Hasan ein Handyvideo. Es sind Live-Aufnahmen von einer morgendlichen Demonstration. Wieder hat es in der vergangen Nacht einen Todesfall gegeben. Ein Sudanese wurde, wie Hasan sagt, im Streit vermutlich von einer afghanischen Gang erstochen. Wieder Proteste, Sprechchöre, Versammlungen der Verzweiflung entlang des Lagerzaunes. Für eine Öffentlichkeit, die nicht mehr hinsehen will oder schon gar nicht mehr existiert.

Zwei Tage später wird in Mytilini eine Kundgebung stattfinden. Anlass ist ein Selbstmord im Lagergefängnis Anfang Januar. Auf Plakaten klagen die Veranstalter an, dass ungefähr 100 Flüchtlinge im Camp inhaftiert sind, ohne erkennbaren Grund.

Zur Kundgebung am Sapfous-Platz von Mytilini kommen am Abend vor allem die Mitglieder von NGOs, einige Flüchtlinge schließen sich an. Auf Englisch, Arabisch, Französisch, Griechisch wird aus dem Lager berichtet, von Gewalt, Willkür und Hoffnungslosigkeit. Anschließend zieht eine kleine Schar Demonstranten durch die Gassen Mytilini‘s, vorbei an Menschen, die ihren Einkäufen nachgehen. Die Parolen der Demonstranten verhallen unbeachtet, ungehört. Es genügen einige Polizisten, um den Verkehr für eine Stunde umzulenken.

Moria und die Dorfbewohner

Ein zweites Mal besuche ich das Lager. Meinen Weg beginne ich diesmal im benachbarten Dorf Moria, das vielleicht 3.000 Einwohner zählt. In den Imbissstuben, kleinen Restaurants wärmen sich Helfer auf, Journalisten, Fernsehleute und Fotografen, die hier täglich unterwegs sind.

Vom Dorfplatz zum Moria-Camp gegenüber führt eine kleine Straße, auf der täglich Hunderte unterwegs sind in Richtung Mytilini, ein fast zweistündiger Fußmarsch. Auf ihren Rücken, auf Kinderwägen, Schubkarren tragen sie Strandgut, Styroporteile, Plastikplanen, Holz, – das Bild erinnert an die Rastlosigkeit von Ameisen, die in endlosen Schlangen ihre Last nach „Hause“ schleppen.

Am Rande des Dorfes komme ich an einem sichtlich wohlhabenden Haus vorbei. Der Besitzer steht davor, ein Gespräch bahnt sich an, der Sohn übersetzt ins Englische. Es geht um Angst vor Einbrüchen, Diebstahl, Gewalt. Wir werden unterbrochen von einem vorbeiziehenden iranischen Flüchtling, der auf seinem Kinderwagen Holzpaletten aufgeladen hat. Er bittet um warme Kleidung für seine Kinder. Ein paar Wollhandschuhe, die ich in meinem Rucksack finde, eine kleine Hilfe gegen den kalten Wind.

Als ich weitergehe, kommt mir ein junges afghanisches Paar entgegen, aus ihren Gesichtern spricht Verzweiflung. Sie sind neu hier, haben sich auf ihrer Flucht kennengelernt und geheiratet. Mit einer kleinen „Hochzeitsgabe“ gelingt es mir, ein Lächeln in ihre Gesichter zu tragen, vielleicht ein Stück Hoffnung zu wecken.

Auf meinem Weg zum Moria-Camp, hält ein Auto neben mir. Es ist der Hausbesitzer von vorhin. Er bitte mich einzusteigen, mitzukommen. Ich solle seine Olivengärten sehen, möge mir anschauen, was aus ihnen geworden ist.

Er fährt langsam und zeigt mir Baumstümpfe, Lagerstätten von Neuankömmlingen, Flüchtlingsgruppen in seinen Olivengärten. Hinter einigen Planen sehe ich Kindermannschaften, die Fußball spielen. Überall Müll, Feuerstellen – er wirkt verzweifelt und traurig, überfordert. Ich kann ihn verstehen. Auch ihn hat Europa alleine gelassen.

Den Rest des Weges zum Lager will ich alleine fortsetzen. Die Olivengärten links und rechts der Straße sind abgeschirmt mit hohen Zäunen, mit Sichtplanen verhängt. Angesichts der nicht abreißenden Flüchtlingsströme, nur ein vorrübergehender Schutz.

Der Hafen von Mytilini

Hier legen die großen Fährschiffe an. Eine Gruppe von Jugendlichen, es sind vor allem afghanische, allein Lebende, manche erst 14 Jahre alt, ziehen auf dem Parkplatz vor der ankernden Fähre umher, sitzen an den Ecken.

Ohne Scheu erzählen Sie mir, dass sie wegwollen von der Insel, die sie ein Gefängnis nennen. Ihre Hoffnungen knüpfen sie an Lkw-Fahrer, die sie in ihrer Ladung oder unter dem Fahrwerk verstecken, um auf das Schiff zukommen. Hoffnungen, die hier täglich geträumt werden und nur selten in Erfüllung gehen.

Am späten Nachmittag gegen 17 Uhr kommt Bewegung auf. Die Jungs ziehen in ein nahegelegenes Wäldchen unterhalb der Festung von Mytilini. Sie nehmen mich mit und wollen mir etwas zeigen. An die 100 sind gekommen. Sie kauern an einem Wegrand unter den Pinien und warten bis sie an der Reihe sind. NGO-Mitarbeiter verteilen hier täglich eine warme Mahlzeit.

Nach dem hastig heruntergeschlungenen Mal ziehen sie wieder hinunter zum Hafen. Sie tauschen Nachrichten aus, suchen nach Möglichkeiten an den Kontrolleuren vorbei auf die Fähre nach Athen zu gelangen, die hier um 19 Uhr ablegt. Fast wie ein Ritual, das sich alle Tage wiederholt.

Als ich einige Tage später zur Fähre gehe, die mich nach Athen bringen wird, begegne ich ihnen wieder und erkenne sie. Dort der englischsprechende Junge aus Kabul, und dann wieder der kleine 14-Jährige, in der kurzen Hose, frierend, der blaue Plastiktrinkbecher an seinem Hosengurt baumelnd.

Was soll geschehen?

Doch diese Alltagsroutine ist explosiv. Fast 25.000 Flüchtlinge leben inzwischen auf Lesbos, zusammen mit den Inseln Samos, Chios oder Kos sollen es 40.000 sein. Eine Entwicklung ohne Perspektive, die den Alltag der Inselbewohner überfordert. Sie fühlen sich im Stich gelassen, von Europa, von der griechischen Zentralregierung. Mit Demonstrationen in den letzten Januartagen haben sie das laut zur Sprache gebracht. Ihre Parole: Wir wollen unser altes Leben wieder zurückhaben. Die Politik unter dem neuen griechischen Premier Mitsotakis wird die Not der Menschen populistisch zu nutzen versuchen. Er spricht von Auflösung der Lager und dem Transport der Flüchtlinge auf das Festland. Doch das Wie und Wann bleibt nebulös.

Inzwischen setzt sich die Flucht fort, wie mir eine Sozialpädagogin aus Stuttgart erzählte. Sie ist seit Oktober hier und hält Nachwache am Meeresufer. Denn wenn das Meer ruhig wird, kommen wieder jede Woche Hunderte aus der Türkei. Unter ihnen Flüchtlinge, die vor den Bomben Assads und Putins, vor dem Krieg in Nordsyrien fliehen. Oder es kommen diejenigen, die eine Abschiebung aus der Türkei nach Syrien befürchten. Der Tod bei der Überfahrt im Meer oder das Elend in den griechischen Flüchtlingslagern schreckt sie nicht – denn es ist wenigstens eine Hoffnung.

Trotz der Bilder und Berichte, die uns in den letzten Tagen vermehrt erreichen, zeichnet sich keine Lösung ab. In den Metropolen und Hauptstädten Europas zeigen wir uns moralisch betroffen aber bringen nicht die Kraft und Mittel auf, dieses Elend zu beenden. Wie lange noch?